Steigende Arbeitsunfähigkeit bei jungen Menschen: Psychosoziale Probleme im Fokus
15.12.2025Immer mehr 18- bis 34-Jährige werden aufgrund von psychosozialen Problemen arbeitsunfähig. Der Trend nimmt von Jahr zu Jahr zu. Das zeigt eine aktuelle Studie der Freien Krankenkassen zur Entwicklung der Arbeitsunfähigkeit bei jungen Arbeitnehmern in Belgien. Die Analyse, die auf Daten von 2,3 Millionen Mitgliedern basiert, zeigt einen generationenspezifischen Trend auf, der zum Handeln aufruft.
Psychische Gesundheit schon zu Beginn der Karriere geschwächt
Zwischen 2018 und 2024 ist die Zahl der jungen Menschen, die arbeitsunfähig werden, besonders stark bei Selbstständigen gestiegen (+48 %), gefolgt von Angestellten (+35 %). Sowohl Frauen als auch Männer sind betroffen, allerdings auf unterschiedliche Weise:
- Männer sind besonders stark mit Burnout konfrontiert.
- Frauen erleben häufiger Depressionen, Stress und Angststörungen.
Im Jahr 2024 waren 39 % der neuen Arbeitsunfähigkeitsfälle der 18- bis 34-Jährigen auf psychosoziale Störungen (Burnout, Depressionen, Stress oder Angststörungen) zurückzuführen – im Vergleich zu 30 % bei älteren Arbeitnehmern. Seit 2018 ist dieser Anteil bei jungen Menschen um fast 35 % gestiegen, bei älteren um 20 %. Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems nahmen dagegen nur moderat zu.
Ein genauer Blick auf die Diagnosen neuer Arbeitsunfähigkeitsfälle bestätigt diese Entwicklung:
- Bei jungen Arbeitnehmern stieg die Zahl der Burnout-Erkrankungen zwischen 2018 und 2024 um 136 %, bei den über 34-Jährigen um 78 %.
- Die Zahl der Depressionen nahm bei den Jüngeren um 36 % zu, bei den Älteren lediglich um 6 %.
Burnout und Depressionen machen inzwischen ein Viertel (25 %) aller neuen Arbeitsunfähigkeitsfälle bei den unter 35-Jährigen aus – ein Anstieg von 40 % in nur 6 Jahren.
Diese Zahlen verdeutlichen einen klaren generationellen Trend: Junge Arbeitnehmer sind im Verhältnis stärker von psychosozialen Problemen betroffen als ältere. Dieses Ergebnis zeigt sich in allen untersuchten Berufsgruppen, besonders betroffen sind jedoch Angestellte: 2024 litten fast 45 % der jungen Angestellten, die arbeitsunfähig wurden, an psychosozialen Störungen (+23 % im Vergleich zu 2018), während der Anteil bei jungen Arbeitern und Selbstständigen 25 % betrug (+32 % bzw. +48 % im Vergleich zu 2018).
Bei sozioökonomisch stark benachteiligten Personen zeigt sich dieser Anstieg psychosozialer Probleme hingegen in allen Altersgruppen.
Ein wachsendes Risiko für Invalidität
Die Studie zeigt, dass jede 7. ArbeitsunfähigkeitDie Unfähigkeit zu arbeiten wegen einer Krankheit oder eines Unfalls. Mehr (14 %) bei jungen Menschen in eine langfristige Invalidität von mehr als 12 Monaten übergeht. Bei psychosozialen Störungen ist das Risiko noch höher:
- 22 % der jungen Menschen mit Depressionen, Angststörungen oder Stress werden langfristig arbeitsunfähig (Invalidität).
- Bei Burnout sind es 18 %.
Zum Vergleich: Muskel-Skelett-Erkrankungen weisen ein Risiko von 14 % auf.
„Der Anteil psychosozialer Störungen bei jungen Menschen steigt und trägt wesentlich zum Anstieg der Invalidität in dieser Altersgruppe bei. Während Arbeitsunfähigkeit früher überwiegend ältere Arbeitnehmer aus körperlichen Gründen betraf, trifft sie heute massiv junge Menschen aus psychischen Gründen“, so Thomas Otte, Experte für Arbeitsunfähigkeit bei den Freien Krankenkassen.
Dieses Phänomen beschränkt sich nicht auf Belgien: Ähnliche Entwicklungen sind auch in den Nachbarländern und auf internationaler Ebene zu beobachten.
Warum sind junge Menschen besonders verletzlich?
„Die Verschlechterung der psychischen Gesundheit junger Menschen ist ein besorgniserregendes Phänomen. Sie hat viele Ursachen, die weit über die Gesundheitspolitik hinausgehen“, betont Thomas Otte.
Geschwächte Schutzfaktoren
Die psychische Gesundheit hängt von zahlreichen sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren ab, die das psychische Gleichgewicht stärken oder schwächen können:
- soziale Unterstützung, die ein zentrales Element für Wohlbefinden und Stressresistenz bildet,
- sozioökonomische Lage und Arbeitsqualität, die Stabilität und Sinn vermitteln,
- individuelle Faktoren wie körperliche Gesundheit, psychosoziale Kompetenzen und Lebenserfahrungen, die die ResilienzFähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen bzw. sich von ihnen zu erholen, psychische Widerstandskraft. Mehr beeinflussen,
- gesellschaftliches Umfeld, etwa der Zugang zu sicheren, grünen öffentlichen Räumen, die Begegnungen ermöglichen.
Fehlen bestimmte Elemente, steigt die Anfälligkeit für Belastungen. Vor allem soziale Unterstützung und der sozioökonomische Status spielen eine entscheidende Rolle: Sie verstärken die Wirkung anderer Belastungen und erhöhen das Risiko für Stress und Erschöpfung.
Ein Arbeitsmarkt im schnellen Wandel
Junge Arbeitnehmer stehen vor konkreten Herausforderungen in Bezug auf ihr Wohlbefinden am Arbeitsplatz:
- Eine heikle Übergangsphase: Der Wechsel vom Studium ins Berufsleben erfordert Anpassung an weniger strukturierte Rahmenbedingungen und kann dazu führen, dass Erwartungen und Realität stark auseinanderklaffen.
- Geschwächte soziale Bindungen: Homeoffice und flexible Arbeitsplätze (Flex Desk) erschweren die Konzentration und verringern die Möglichkeit, qualitativ hochwertige Beziehungen aufzubauen – ein zentraler Faktor für das Wohlbefinden.
- Anerkennung und Interaktionen: Die Qualität beruflicher Beziehungen ist entscheidend, um die Belastungen eines zunehmend wettbewerbsorientierten Umfelds abzufedern.
Diese Faktoren wirken sich stark auf die psychische Gesundheit junger Arbeitnehmer aus. Die Stärkung sozialer Bindungen und Anerkennung am Arbeitsplatz ist daher entscheidend für ihr Wohlbefinden.
Hyperkonnektivität als Belastungsfaktor
Die intensive Nutzung von Bildschirmen – beruflich oder privat – reduziert die mentale Erholung und führt zu digitaler Ermüdung, kognitiver Überlastung und Schlafstörungen.
Soziale Medien können dabei besonders negative Auswirkungen haben:
- Mehr Stress und Angst: Die enorme Menge an digitalen Inhalten belastet die Psyche und verstärkt die Symptome.
- Eingeschränkte soziale Interaktionen: Digitale Aktivitäten verringern die Zeit für echte zwischenmenschliche Kontakte, die für das Wohlbefinden entscheidend sind.
- Bewegungsmangel und körperliche Risiken: Langes Sitzen vor dem Bildschirm fördert Inaktivität und erhöht das Risiko für Übergewicht und chronische Erkrankungen.
- Verstärkter Einfluss durch frühe Nutzung: Ein zu früher Zugang zu Smartphones und Sozialen Medien verstärkt die negativen Folgen.
Eine als unsicher empfundene Zukunft
Klimakrise, geopolitische Instabilität, sozioökonomische Spannungen sowie Schwierigkeiten beim Zugang zu Wohnraum oder einer festen Anstellung – all diese Faktoren erzeugen ein Gefühl von Besorgnis, teils sogar von Entmutigung. Beruflicher Druck, geprägt von Leistungsanforderungen, gesellschaftlicher Polarisierung und der Verbreitung angstfördernder Inhalte im Internet, verstärkt dieses Unsicherheitsgefühl und erschwert es, der Zukunft gelassen entgegenzusehen.
Eine kollektive Verantwortung
Angesichts eines Phänomens dieses Ausmaßes rufen die Freien Krankenkassen zu einer dringenden, bereichsübergreifenden Mobilisierung auf.
„Prävention muss bereits in der Kindheit beginnen. Dort werden die Grundlagen für das mentale Wohlbefinden gelegt. Früh zu handeln bedeutet, jedem die Ressourcen zu geben, um das zukünftige Berufsleben erfolgreich zu meistern“, erklärt Thomas Otte.
Die Freien Krankenkassen haben ein kohärentes Maßnahmenpaket entwickelt, das sich auf 3 Schwerpunkte konzentriert: Governance (Regel- und Koordinationssystem), Arbeitswelt und Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
1. Eine starke Governance zur Verbesserung der psychischen Gesundheit
- Einen interföderalen Plan zur Förderung der psychischen Gesundheit einführen.
- Das Prinzip „Mental Health in All Policies“ in alle öffentlichen Entscheidungen integrieren.
- Spezifische Behandlungswege für Burnout und Depression schaffen, koordiniert zwischen Pflegeleistenden und Arbeitgebern.
2. Maßnahmen in der Arbeitswelt
- Risiken hybrider Arbeitsumgebungen (Homeoffice, Flex Desk) vorbeugen, indem qualitativ hochwertige Beziehungen gefördert werden.
- Arbeitgeber für die Bedeutung psychischer Gesundheit sensibilisieren und gezielt schulen.
- Ein Label „Unternehmen engagiert sich für psychische Gesundheit“ einführen.
- Die Integration junger Menschen erleichtern, z.B. durch Mentoring, regelmäßiges Feedback und Räume für soziale Interaktion.
- Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Berufs- und Privatleben fördern.
3. Resilienz stärken und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern
- Mentale Gesundheitskompetenz in die Schulprogramme aufnehmen und dabei die Eltern einbeziehen.
- Angebote entwickeln, die Sport, Kultur und soziale Aktivitäten ermöglichen, um soziale Beziehungen zu stärken.
- Die Nutzung digitaler Medien steuern: Aufklärungskampagnen durchführen, den Zugang zu Bildschirmen und sozialen Netzwerken verzögern, ethische Plattformen fördern und bildschirmfreie Zonen in für Jugendliche vorgesehenen Räumen einrichten.